"FECHTEN VERSTEHEN": hochaktuell und umfassend - ein Kompendium für jeden Trainer, Fechter und Betreuer! *************************************************************************************************

Die charakteristischen Merkmale des Fechtens als Sport

 „Das Ausüben einer Waffenkunst beseitigt vielerlei
Schmerzen, Missbefindlichkeiten und Krankheiten; es
vertreibt melancholische und cholerische Anwandlungen
ebenso wie fehlgeleitete Vorstellungen; es hält einen
Mann gut bei Atem und vollkommen gesund, und es
 verschafft ihm ein langes Leben.“
George Silver, 1599


„Das Fechten ist sowohl ein geistig anspruchsvolles
Strategiespiel als auch eine physische Herausforderung.
Obwohl sich die Kontrahenten nur durch das Geflecht der
Maske sehen, findet die Konfrontation doch Auge in Auge
und unter all der mentalen Anspannung statt, die dies
 üblicherweise mit sich bringt.“ 
Terence Kingston, 2001


Die berühmten Worte des Fechtmeisters in Molières Der Bürger als
Edelmann aus dem Jahr 1670 sind allseits bekannt. Sie beschreiben die
Essenz des Fechtens als ein Austeilen von Treffern ohne selber einen
Treffer zu erhalten. Insofern kann das Fechten verkürzt als eine Kunst der
Waffenführung definiert werden, bei der es darum geht, den Gegner mit
einem Hieb oder Stich zu berühren und gleichzeitig zu vermeiden, dass
man selbst getroffen wird.
In einem echten Kampf – einem Gefecht mit scharfen Waffen wie
etwa im Krieg, bei einem realen Kampf oder Duell – lag das Ziel der
Gefechte früherer Zeiten immer darin, den Gegner innerhalb möglichst
kurzer Zeit zu töten oder zu verletzen.
Die Kunst der Führung von Hieb- und Stichwaffen - mit Kavalleriesäbel,
Lanze und Bajonett - hatte noch bis in die jüngste Vergangenheit
ihren festen Platz in der Militärausbildung vieler Nationen.
Die charakteristischen Merkmale des Fechtens als Sport
Seit Beginn des 20. Jahrhundert beziehen wir uns, wenn wir vom
Fechten sprechen, jedoch fast nur noch auf das Fechten als Sport. Das
zeitgenössische Fechten in seiner athletischen Form besteht aus der
Vorbereitung auf den Wettkampf und die Auseinandersetzung zwischen
zwei Kontrahenten, die – ausgestattet mit denselben konventionellen
Waffen – entsprechend der anerkannten Regeln und Gepflogenheiten
gegeneinander antreten. Das Ziel dieser sportlichen Auseinandersetzung
ist es, dem Gegner innerhalb einer vorgeschriebenen Zeit die vereinbarte
maximale Zahl an herkömmlichen Treffer zu verabreichen, während man
sich gleichzeitig darum bemüht, selber nicht getroffen zu werden oder
doch zumindest so wenige Treffer wie möglich zu erhalten.
Neben dem modernen Sportfechten existieren auch noch das
Bühnenfechten sowie verschiedene Formen von Fechtpraktiken in einem
staatlich-nationalen Rahmen.
Das Bühnenfechten ist die Kunst der Handhabung verschiedener alter
Waffentypen, die dem Stil und den Traditionen der Zeit entsprechen, die
in dem betreffenden Bühnenstück dargestellt wird - und die natürlich
auch den besonderen Anforderungen des Theaters gerecht sind. Beim
Bühnenfechten spielen verschiedenen Faktoren eine Rolle, wie etwa die
Kenntnis einer Vielfalt von Waffen, das Wissen um die Geschichte des
Fechtens, die Begrüßungsrituale, die Bewegungen und Verhaltensregeln
verschiedener Epochen und auch die Geschicklichkeit und die allgemeine
Kondition der jeweiligen Schauspieler. Abgesehen davon ist das Fechten
eine altbewährte und weithin bekannte Methode für die Verbesserung der
körperlichen Fitness und für die Entwicklung einer gewissen Anmut der
Körperbewegungen der Schauspieler, von der in den Theater-, Ballet- und
Filmschulen gerne Gebrauch gemacht wird.
In einigen Ländern sind alte, staatlich organisierte Formen des
Fechtens heute noch verbreitet und werden auch weiterhin kultiviert, wie
zum Beispiel das Kendo in Japan, das Parikaoba in Georgien und einige
andere mehr.
Das Fechten ist eine sehr spezielle Sportart, die sorgfältig gewählte,
spezifisch abgestimmte Formen und Methoden des Trainings erfordert.
Seine hervorstechendsten Eigenschaften lassen sich besser verstehen,
wenn man das Fechten (und ähnliche Sportarten wie, das Tennis, die
Kampfsportarten, die Mannschaftssportarten) mit anderen Formen des
Sports vergleicht.
Alle Sportarten können wie folgt unterteilt werden:
1. die am meisten typischen Sportarten – hier spielen die Bewegung und
die Anstrengung eine sehr herausragende Rolle (obwohl diese nicht
unbedingt den wichtigsten Faktor darstellen müssen). In diese Gruppe
zählen das Fechten, das Ringen und Boxen, Tennis und Badminton,
Leichtathletik, Rudern, Radfahren, Skifahren, Eisschnelllauf sowie
Fußball, Volleyball, Basketball, Baseball und dergleichen mehr. Diese
Sportarten unterscheiden sich teilweise sehr stark voneinander. Allen
gemeinsam ist jedoch die motorische Aktivität und die Anstrengung.
2. Sportarten, bei denen das Treffen eines Ziels ein sehr herausragender
Faktor ist, wie etwa beim Schießen, Bogenschießen und ähnlichem,
3. Sportarten, bei denen es um das Führen eines Fahrzeugs geht,
wie beim Auto- und Motorradrennen,
4. logische und abstrakte Spiele – zum Beispiel Schach, Dame,
Kartenspiele und dergleichen
5. Modellbausportarten – diese bestehen aus der Konstruktion und dem
Wettbewerb mit Modellen wie etwa Modellflugzeugen, Modellautos
und so fort.
Tabelle 1 listet die charakteristischsten Eigenschaften der Sportarten
auf, in denen motorische Aktivitäten und Anstrengungen einen wichtigen
Faktoren stellen (siehe oben unter Punkt 1). Ich teile diese Sportarten in
drei Untergruppen ein:
1. Sportarten mit künstlerischem Ausdruck, bei denen die Perfektion in
der Technik das wichtigste Ziel darstellt. Das Wesen dieser Sportarten
liegt darin, eine schwierige, komplizierte Abfolge von Bewegungen
vorzuführen. Die Kampfrichter bewerten die Genauigkeit und Anmut
der Darbietung. Beispiele: Kunstturnen, künstlerische Gymnastik,
Akrobatik (Bodenturnen), Eiskunstlauf, Kunstturmspringen und
dergleichen mehr.
2. Sportarten, deren wichtigstes Merkmal die körperliche Fitness ist.
Die Technik dient hier dem Zweck des Erreichens möglichst hoher
messbarer Ergebnisse: schneller, höher, weiter und so fort. Beispiele
hierfür sind die Leichtathletik, das Schwimmen, Rudern, Radfahren,
Gewichtheben und ähnliches.
3. Sportarten, bei denen die wichtigsten Eigenschaften in der Taktik und
– damit verbunden – in verschiedenen psychomotorischen Fähigkeiten
liegen. Die Technik spielt eine sehr wichtige Rolle, dient aber letztlich
lediglich der Taktik. Diese Sportarten zeichnen sich durch zahlreiche
motorische Fertigkeiten der kognitiv-motorischen Variante aus. Dazu
zählen das Fechten, Boxen, Ringen, Tennis, Badminton, der Fußball,
Volleyball, Basketball und so fort.

Das Fechten als Sport

· bildet zahlreiche motorische Fertigkeiten (motorische Gewohnheitsmuster)
und verschiedene Arten von motorischen Reflexe aus (siehe
hierzu Kapitel V - Die grundlegende Konzeption der motorischen
Reaktionen beim Fechten);
· baut die kräftemäßigen Fertigkeiten auf und fördert die
Koordinationsfähigkeit;
· stärkt und trainiert die Muskeln, Bänder und Gelenke;
· wirkt sich positiv auf das Nervensystem, die Atemwege und die
Durchblutung aus;
· befördert die Gesundheit insgesamt und verbessert die funktionalen
und adaptiven Fähigkeiten des Organismus;
· steigert die Wahrnehmung, die Konzentration, das
Vorstellungsvermögen, das schnelle analytische Denken, die
Orientierung in Raum und Zeit und die Reaktionsgeschwindigkeit.
Um sich fechterisch betätigen zu können, bedarf es keiner großen
Sportplätze oder kostspieligen Einrichtungen, und es ist auch nicht von
den Jahreszeiten abhängig. Durch das Fechten entwickelt man
· ein blitzschnelles Orientierungsvermögen;
· die Fähigkeit, sich während des Gefechtes zu konzentrieren;
· eine gewisse Geschicklichkeit bei der Irreführung des Kontrahenten;
· und die Fähigkeit, die Techniken, Reflexe und Absichten
des Gegners zu beobachten und zu erkennen.
Außerdem wirkt sich das Fechten positiv auf bestimmte persönliche
Eigenschaften aus, wie beispielsweise:
· den Ehrgeiz;
· die Selbstkontrolle;
· das Selbstvertrauen und die positive Motivation (die richtigen
Inhalte und Zielrichtungen sowie das Motivationsniveau insgesamt);
und es bietet Anreize für die Erfolgsorientierung und Identifizierung
mit den angestrebten Zielen im Sinne der Leistungsmotivation.
Ein Fechtkampf stellt das Aufeinanderprallen zweier taktischer
Systeme dar. Der Erfolg eines solchen „taktischen Kampfes“ hängt von
verschiedenen Faktoren ab: einer frühzeitigen und möglichst genauen
Einschätzung des Kontrahenten (seiner Stärken und Schwächen, seiner
bevorzugten Aktionen und seiner Schnelligkeit), der Fähigkeit, dem
Gegner die eigenen Absichten aufzuzwingen und die Anwendung einer
wohlüberlegten Taktik, die häufig von Gefecht zu Gefecht variiert (siehe
hierzu auch Kapitel III - Einige Anmerkungen zur Taktik beim Fechten).
Durch das Fechten entwickelt man ein außerordentlich gutes Gefühl
für die Körperbewegungen generell (die allgemeine Koordination) und
auch ein besonderes Koordinationsvermögen für die Bewegungen der
Hände und Finger (Feinkoordination). Das ergibt sich unter anderem
daraus, dass häufig innerhalb extrem kurzer Zeit eine sofortige Aktion zu
erfolgen hat, denn meist steht der Fechter unter sehr hohem „Zeitdruck“.
Hinzu kommt, dass seine Aktionen immer auch von der Entwicklung der
Gefechtslage auf der Planche abhängig sind. Das Fechten erfordert und
fördert auch die Fähigkeit, bei selbst bei extrem schnellen, wechselnden,
präzisen und zuweilen sehr komplizierten Aktionen, die zuweilen in einer
strikten Gleichschaltung aller Bewegungsabläufe, dann aber wieder mit
völlig voneinander unabhängigen Arm- und Beinbewegungen ausgeführt
werden, das Gleichgewicht zu behalten. Wer den Fechtsport betreibt, der
trainiert seine gesamte Muskulatur, insbesondere aber die Streckmuskeln.
Fechtübungen und Gefechte fördern die Gelenkigkeit, die Flexibilität und
die Gewandtheit der Körperbewegungen sowie generell die gesamte
Beweglichkeit und Agilität.
Das Sportfechten ist – par excellence – ein schneller Sport in wahrlich
jedem Sinn des Wortes. Es umfasst:
· die Schnelligkeit in der Wahrnehmung;
· eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit;
· die Schnelligkeit in der Bewegung;
· schnelle Wechsel von Aktionen;
· schnelle Rhythmuswechsel und dergleichen mehr.
Die Schnelligkeit eines Fechters ist um Vieles komplizierter als etwa
die Schnelligkeit eines Läufers oder eines Schwimmers). Schnelligkeit,
und besonders die Schnelligkeit beim Fechten, stellt eine Kombination
aus den kräftemäßigen („physischen“) Kapazitäten und den Fähigkeiten
des Koordinationsvermögens des Athleten dar. (Die kräftemäßigen
Ressourcen hängen vom Belastungsvermögen aller Organe, Systeme und
des Organismus als Ganzem ab, während das Koordinationsvermögen vor
allem auf dem funktionalen Zusammenwirken der Rezeptoren, des
Nervensystems und des motorischen Systems (der Muskeln) beruht.
Das Fechten fördert und schult viele koordinatorische Fähigkeiten, die
man in drei Gruppen einteilen kann:
· das motorische Lernvermögen (die Fähigkeit, neue Aktionen zu
erlernen und „alte“ motorische Gewohnheitsmuster zu verändern);
· die motorische Kontrolle (die Fähigkeit, die eigenen Bewegungen
genau zu steuern);
· das motorische Adaptionsvermögen (die Fähigkeit, unterschiedliche
Fechtaktionen in veränderlicher Weise und in sehr vielfältigen, oft
unvorhersehbaren Situationen ausführen und anwenden zu können).
In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Fechten (wie auch andere
Kampfsportarten und Spiele) ganz erheblich von Sportarten, die allein auf
den motorischen Fertigkeiten der Athleten beruhen (wie zum Beispiel die
Gymnastik oder die Akrobatik).
Als Sonderform der motorischen Adaptionsfähigkeit (des motorischen
Anpassungsvermögens) möchte ich an dieser Stelle noch die blitzschnelle
Improvisation hervorheben, deren Essenz vorrangig darin liegt, während
des Gefechtes auf der Basis von Grundbewegungen eine neue Bewegung
oder Bewegungsfolge an den Tag zu legen, die in dieser Form noch nie
zuvor im Training oder sonstwo ausgeführt oder eingeübt worden ist.
Abgesehen davon, dass das Fechten das kinästhetische Feingefühl
(also den Sinn für die Bewegungen des Körpers und ihre Richtung)
insgesamt schult, bekommt man dadurch, dass die Waffe mit den Fingern
geführt wird, mit der Zeit „ein Gefühl fürs Eisen“ und verbessert auf
diese Weise auch die Empfindlichkeit des Tastsinns.
Große Fechtturniere ziehen sich häufig über mehrere Tage hin, wobei
die Teilnehmer - mit Unterbrechungen - über viele Stunden hinweg ihre
Gefechte zu absolvieren haben, vor allem, wenn sie in mehr als nur einer
Waffen an den Start gehen (was heutzutage eher selten vorkommt) oder
wenn sie sowohl an den Einzel- wie auch an den Mannschaftskämpfen
teilnehmen. Das stellt einen höchst anspruchsvollen und schwierigen
Belastungstest für die Ausdauer, das psychologische Stehvermögen und
die fechtspezifische Kondition der Athleten dar und bringt mich auf das
Thema der Ausdauer an sich zu sprechen.
Viele Trainer setzen den Begriff der Ausdauer ausschließlich mit der
Art von Ausdauer gleich, die für einen Langstreckenlauf vonnöten ist.
Fürs Fechten geht das natürlich vollkommen fehl, weil ein Langstreckenlauf
mit langen, monotonen Anstrengungen, rhythmischen Bewegungen
und dem Nichtvorhandensein sowohl eines Gegners als auch einer sich
stetig verändernden Situation verbunden ist. Dauerleistungssportarten
sind zudem stark von sauerstoffabhängigen Prozessen und der Bewegung
sogenannter slow-twitch Muskelfasern abhängig, die für Muskelarbeiten
von geringerer Intensität aktiviert werden und die über eine hohe aerobe
Kapazität (die Fähigkeit sich mit Sauerstoff anzureichern) und einen
großen Ermüdungswiderstand verfügen. Im Fechten ist die Anstrengung
sehr kurzfristig und schnell. Sie ist von anaeroben, sprich sauerstoffunabhängigen
Prozessen begleitet und beansprucht vor allem fast-switch
Muskelfasern, die besonders auf eine schnelle, kräftige und intensive
Beanspruchungen der Muskeln ausgelegt sind. Außerdem ist der Fechter
mit einem Kontrahenten und einer sich ständig verändernden Situation
konfrontiert. Obendrein ist auch die Anstrengung als solche keine
kontinuierliche (ganz abgesehen von den Unterbrechungen zwischen den
Gefechten).
Im Gegensatz zur Meinung vieler anderer Autoren, stellt die Ausdauer
oder das Durchhaltevermögen eines Fechters für mich eine hochgradig
spezifische Fähigkeit dar. Außerdem gibt es meiner Meinung nach auch
verschiedene Arten von Ausdauer - die Ausdauer eines Uhrmachers, eines
Chirurgen, eines Marathonläufers, eines Eiskunstläufers, eines Orchesterdirigenten,
Autofahrers, Sprinters, Fußballspielers, Datentypisten, die
Ausdauer eines Filmregisseurs, eines Sängers, eines Pianisten, die eines
Schmieds, eines Balletttänzers, eines Fechters und dergleichen mehr. Ich
definiere Ausdauer als Ermüdungswiderstand innerhalb eines gegebenen
speziellen Aktivitätsbereichs. Mit Langstreckenläufen lässt sich sicherlich
keine fechterische Ausdauer erreichen. Meiner Meinung nach ist die
fechterische Ausdauer eine Widerstandskraft gegen beständig anhaltende
Ermüdungsreize verschiedener Art:
· kognitive Ermüdungsreize (durch die genaue Beobachtung
des Gegners, durch die Schnelligkeit und Präzision, in der
sich die Wahrnehmung zu vollziehen hat, durch das hohe
Konzentrationsniveau und etliche andere Anforderungen
an die Aufmerksamkeit sowie durch die notwendigerweise
schnellen und möglichst geeigneten Reaktionen);
· mentale Ermüdungsreize (durch das Bemühen, die Strategien des
Gegners zu erfassen und daraus sowohl während des Gefechtes als
auch danach schnellstmöglich die richtigen Schlüsse zu ziehen);
· emotionale Ermüdungsreize (durch den Erregungszustand, durch
die stressbelastete Situation, durch den Wunsch zu gewinnen, durch
das Bemühen eine Niederlage zu vermeiden, durch aufkommende
Gefühle der Freude, der Verzweiflung und Hoffnung sowie durch
eventuell fehlendes Selbstvertrauen und dergleichen mehr);
· hinzu kommt – für den trainierten Fechter wohl von geringster
Bedeutung – die „physische“ Ermüdung.
Beim Fechten spielen präzise, vielseitige, breit gefächerte und
variierende Techniken, Strategien, Erfahrungen und psychologische
Faktoren (Selbstkontrolle und Konzentration, eine positive intrinsische
Motivation, Erfolgsmotive, ein angemessen hohes Aktivationsniveau)
eine enorm wichtige Rolle. Nicht zuletzt deswegen ist es ein Sport, der
von früher Jugend bis ins hohe Alter hin betrieben werden kann. Ältere
Wettkampfteilnehmer können einen gewissen Verlust an Schnelligkeit
und Ausdauer durch eine bessere Technik, durch ihre größere Erfahrung,
durch ausgefeiltere strategische Lösungen und auch durch individuelle
fechtspezifische motorische Reflexe (abweichende Reaktionsmodelle)
kompensieren, (siehe hierzu auch das Kapitel V - Die grundlegende
Konzeption der motorischen Reaktionen im Fechten).
Die stete Fortentwickelung und Perfektionierung eines regelrechten
Komplexes physischer und psychologischer persönlicher Eigenschaften
und Fähigkeiten ist – wie das beständige Ringen um die Verbesserung der
eigenen technischen, technisch-taktischen und taktischen Fertigkeiten –
für einen Fechter unverzichtbar.
Im modernen, sehr athletisch orientierten Fechtsport sind besondere
kräftemäßige Ressourcen – wie Stärke, Ausdauer und die entsprechende
Schnelligkeit – sowie ein spezielles Koordinationsvermögen unbedingt
erforderlich. Geschick und Gewandtheit in der Waffenführung sowie
taktisches Vermögen sind ebenfalls extrem wichtig und in gewissem
Sinne von entscheidender Bedeutung.
Aber das reicht noch nicht aus – der Fechter muss auch über eine sehr
kräftige und gut trainierte Arm- und Beinmuskulatur verfügen. Dass die
Beine stark und elastisch sind, ist nötig:
· um die Fechtstellung zu meistern,
· um die Fechtbahn zielbewusst für sich einnehmen zu können,
· für einen Ausfall, eine Ballestra (Sprung vor – Ausfall) oder eine
Flèche (vor allem bei der Durchführung schneller Ausfälle und
Flèches ist eine Kombination von Kraft und Geschwindigkeit
(= Stärke) sehr wichtig.
Starke Muskeln in den Armen und Fingern (ergänzt durch eine gute
Feinkoordination) ermöglichen:
· ein langes, kontinuierliches und ermüdungsfreies Halten und Führen
der Waffe;
· schnelle Schläge gegen die gegnerische Klinge;
· starke Bindungen;
· Paraden mit dem mittleren Teil der Klinge - was insbesondere beim
Degenfechten von Bedeutung ist, weil es hier - in der häufig weiteren
Mensur - nicht immer möglich ist, mit der Klingenstärke zu parieren.
Die Bedeutung der Schnelligkeit beim Fechten lässt sich gar nicht
überschätzen. Heutzutage kann man sich kaum einen großen Fechtmeister
vorstellen, der nicht auch sehr schnell wäre. Man sollte jedoch im Auge
behalten, dass der Geschwindigkeit, in der eine Situation eingeschätzt
wird und der Schnelligkeit der motorischen Reflexe (oder genauer gesagt:
der latenten Reaktionszeit) - in Kombination mit einem Gespür für den
richtigen Zeitpunkt (dem Sinn für den Überraschungsmoment, siehe auch
Kapitel IV - Der Wert des Timings für die Taktik) - eine weitaus größere
Bedeutung zukommt, als der Geschwindigkeit, in der die Bewegungen
letztlich ausgeführt wird (der Vollstreckungs- oder Vollzugszeit einer
Reaktion) - obwohl die letztgenannte Art der Geschwindigkeit viel
deutlicher zu erkennen ist.
Um zu plötzlichen und abwechslungsreichen Wechseln der Richtung
und des Rhythmus seiner Bewegungen in der Lage zu sein, um eine hohe
Tempokurve zu erreichen und um seinen Bewegungen Geschmeidigkeit
und Gewandtheit zu verleihen, muss der Fechter seine Muskulatur im
Gefecht entspannen, während er gleichzeitig vorbereitende Aktionen
ausführt, auf der Bahn manövriert oder die passende Mensur erkundet,
um er seinen Kontrahenten überraschend angreifen zu können. Bei
Fechtern mit starrer Muskulatur, die häufig so fechten, als seien sie auf
der Fechtbahn angewachsen, wird die Absicht zur Durchführung einer
Klingenbewegung fast immer schon frühzeitig durch einen übermäßigen
Ausschlag „signalisiert“, während die Bewegungen insgesamt eher steif
bleiben. So verlangsamt man nicht nur die eigenen Aktionen, sondern
warnt auch noch den Gegner vor.
Ein schöner, effizienter und schneller Fechtstil hängt von sparsamen
und entspannten Bewegungen ab, bei denen allein die dafür benötigten
Muskeln angemessen stark und im passenden Rhythmus zusammengezogen
werden – und zwar in reibungslosem Zusammenspiel mit ihren
(entspannten) Antagonisten.
Auf der psychologischen Seite sind die Motivation – und direkt damit
verbunden – das Aktivationsniveau die wichtigsten Grundelemente. Man
kann durchaus behaupten, dass sich ein ordentliches Training und Erfolge
bei Turnieren aus der richtigen Art und dem richtigen Maß an Motivation
und aus der Intensität und Stärke des Aktivationsniveaus ergeben. Um
schwierige und zuweilen langweilige Übungen immer und immer wieder
fleißig und gewissenhaft wiederholen zu können, muss die Motivation -
inhaltlich wie von ihrer Zielrichtung und Stärke her - optimal ausgerichtet
und das Aktivationsniveau auf geeigneter Höhe eingestellt sein. Allein
der persönliche Ehrgeiz und ein Erfolgsmotiv auf entsprechend hohem
Niveau kann einen Fechter dazu bringen, die unablässigen und sturen
Bemühungen auf sich zu nehmen, die nötig sind, um seine fechterischen
Qualitäten zu verbessern, um alle Schwierigkeiten und Hindernisse zu
überwinden, um seinen Kampfwillen trotz ermüdender und ungünstiger
Bedingungen während des Gefechts aufrechtzuerhalten und um in den
Wettkämpfen die bestmöglichen Resultate zu erzielen.
Was die Leistungsmotivation (eine Reihe von Motiven, die in
Situationen des Kampfes, der Rivalität oder der Bewertung von außen
aufkommen) betrifft, so denken viele Trainer, dass hier ein sehr hoch
gestecktes, fast manisches Erfolgsmotiv („Erfolg um jeden Preis“) und
äußerst harte, ermüdende, ja fast mörderische Anstrengungen das Beste
seien. Auf der Basis vieler, vieler Jahre praktischer Erfahrung und
aufmerksamer Beobachtung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass –
sowohl in Bezug auf die Ergebnisse bei Turnieren als auch mit Blick auf
die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler - die besten und wirksamsten
Komponenten einer erfolgreichen Leistungsmotivation folgende sind:
· ein optimales Erfolgsmotiv auf entsprechendem Niveau - der Wunsch
zu gewinnen, der Wunsch sich zu messen, der Glaube an den eigenen
Erfolg, wobei „der Sieg jedoch nicht alles ist“;
· die Identifizierung mit der Aufgabe (task involvement) - der Wunsch, ,
die eigenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verbessern;
· Gefühle der Unabhängigkeit, Verantwortung, des Selbstvertrauens;
· die Freude am Sport, also der Spaßgewinn durch Training und
Wettkämpfe, die Liebe zum Fechten (der emotionale Faktor);
· und das Interesse an den intellektuell-technischen Dimensionen des
Fechtens (der mentale Faktor).
Bisher habe ich bei dem Versuch, die Merkmale des Sportfechtens zu
erläutern, vor allem den allgemeinen Wert, die Attraktivität und die
vorteilhafte Wirkung für den Fechter selbst unterstrichen. Lassen wir uns
nun - vielleicht ein wenig tiefer greifend – darauf eingehen, was das
Fechten zu einer so besonders anziehenden und wertvollen Sportart
macht, besonders wenn man es mit anderen Disziplinen vergleicht, die
vielleicht einfacher zu betreiben, „natürlicher“, leichter zu verstehen und
einzuschätzen sind, und die genauso Freude bereiten und gleichfalls
gesundheitsfördernde und erzieherische Wirkungen mit sich bringen.
Mir scheint, dass der besondere Charme des Fechtens und sein hoher
Wert in der gesamten Bandbreite der unterschiedlichen Sportarten auf der
engen Verknüpfung folgender Faktoren beruhen:
1. die bloße Freude am schnellen, bewegten und vielseitigen Kampf mit
einer leichten Waffe im Rahmen kaleidoskopartiger und unerwarteter
Wechsel der taktischen Situation;
2. die außergewöhnliche und entscheidende Bedeutung persönlicher,
psychologischer Eigenheiten und des Intellekts während der
Gefechtssituation, einschließlich der psychomotorischen Fähigkeiten
(psychologische Prozesse – wie die Wahrnehmung, die Reaktion, die
Entscheidungsfindung – die in direktem Zusammenhang mit allen
motorischen Aktivitäten stehen);
3. die reichhaltige, romantische und historische Tradition des Fechtens,
die die Vorstellungskraft nicht nur jugendlicher Interessenten anregt;
4. die Möglichkeit, das Fechten von Kindesbeinen an bis in hohe Alter
zu praktizieren.
5. der außergewöhnlich hohe soziale und erzieherische Wert des
Fechtens als attraktive Form der Vorbereitung auf Leben und Arbeit in
unserer zeitgenössischen Welt. Die insgesamt und im Detail fein
abgestimmten motorischen Fähigkeiten, die das Fechten erfordert, und
die große Herausforderung, die es für das Auffassungsvermögen und
die verschiedenen Dimensionen der Aufmerksamkeit bedeutet,
können im Leben, in der Berufswelt, bei künstlerischen Aktivitäten,
beim Autofahren, bei der Bedienung vieler Maschinen, Geräte und so
fort sehr praktisch und nützlich sein. Beispiele hiefür sind das hohe
Maß an Konzentration und die vielseitigen Anforderungen, die das
Fechten an die gesamte Aufmerksamkeitspalette stellt, wie etwa an die
Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf eine Sache zu konzentrieren, sie
aufzuteilen, zu verlagern. Auch beim Gewichtheben und Joggen
werden Muskeln und körperliche Fähigkeiten geschult, doch für
unsere zeitgenössischen Lebens- und Arbeitswelt nicht sind diese
nicht so sehr von Nutzen.
Der letzte Punkt unterstreicht die Tatsache, dass die Körperkultur, für
die der Sport in der modernen Welt die wichtigste Form darstellt, als eine
Art Vorbereitung auf das Leben dient, auf die produktive Aktivität, auf
den Verkehr, die Kommunikation, die Kämpfe und so fort und darauf, in
der Gesellschaft einer bestimmten Epoche, innerhalb einer Nation, einer
gesellschaftlichen Klasse, eines Staates seine Rolle zu erfüllen.
Wenn man all dies in Betracht zieht, so ist das Fechten - der vielleicht
älteste Sport der Welt - paradoxerweise wohl gleichzeitig die modernste
aller Sportarten, das heißt, die vielseitigste und die dem Leben und den
Aktivitäten des 21. Jahrhunderts am besten angepasste.
In der Menschheitsgeschichte hat es Zeiten gegeben, in denen bloße
Muskelkraft und eine ungewöhnliche körperliche Ausdauer und Härte im
Kampf gegen Naturgewalten, Tiere und andere Menschen sowie bei
primitiven Produktionstätigkeiten eine kolossale und dominante Rolle
spielten.
In der heutigen Zeit jedoch, mit ihrem hohen Entwicklungsstand und
der immensen Leistungsfähigkeit ihrer produktiven Kräfte, mit ihrer Flut
von technologischen Entwicklungen zum Nutzen der Menschheit, mit der
enormen Steigerung ihrer Mittel und Wege, der Geschwindigkeit ihres
Verkehrs und ihrer Kommunikation, mit dem stetig zunehmenden Einsatz
unterschiedlichster Maschinen, Einrichtungen, Apparate und präziser
Steuerungsmechanismen in der extremen Geschäftigkeit und Hektik des
modernen Lebens, gewinnen die folgenden psychologischen Merkmale,
Fähigkeiten und Eigenschaften entscheidend an Bedeutung:
· eine sehr ausgetüftelte Art der Bewegung ohne rohe Gewalt,
· eine äußerst feinfühlige Fingerfertigkeit,
· eine hochgradig entwickelte kinästhetische Wahrnehmung,
· die Fähigkeit zu einer lange anhaltenden
Konzentration der Aufmerksamkeit
· die Fähigkeit, diese Aufmerksamkeit und Konzentration
zu verlagern und/oder auf bestimmte Felder zu verteilen,
· der räumliche Orientierungssinn und ein schnelles Reaktionsvermögen
in sich ständig und rapide verändernden Situationen,
· die Fähigkeit, sofortige Entscheidungen zu treffen
· und die Fähigkeit, diese Entscheidungen noch während der
Durchführung einer Aktion schnell und sinnvoll zu verändern.
Diese Fertigkeiten und Fähigkeiten sind in den heutigen, modernen
Industrieunternehmen, in Forschungslaboren, beim Autofahren, Fliegen,
bei militärischen Aktivitäten mehr und mehr gefragt, und es sind genau
jene charakteristischen Merkmale, die durch den Fechtsport in der Praxis
ausgebildet und entwickelt werden.
Die Aufgabe eines guten Trainers liegt nun darin, diese Qualitäten
seiner Schüler geduldig zur Perfektion zu führen, so dass sie das Erlernte
vom engen Feld der Fechtbahn auf ihre Arbeit, ihr Leben und ihr Studium
übertragen können. Der bemerkenswerte soziale und erzieherische Wert
des Fechtens und anderer Sportarten ist nichts, das sich spontan aus der
Sache heraus ergibt. All dies muss durch den Trainer erst sorgsam
herangebildet und geformt und auch durch die Verhaltensweisen der
Sportkameraden mit getragen werden.
Hierbei sollte man sich immer vor Augen halten, dass sich bestimmte
Eigenschaften und Verhaltensweisen, die bei sportlichen Aktivitäten
erlernt werden, ohne richtige pädagogische Begleitung unter Umständen
ins Negative verkehren. So können beispielsweise Fechter – wenn sie
schlecht angeleitet sind - unvorteilhafte Charakterzüge wie Aggressivität,
Egozentrik, Selbstsucht, Streitsucht und Rücksichtslosigkeit gegenüber
anderen entwickeln. Von daher ist es erforderlich, dass der technische
Unterricht und die pädagogische Unterweisung ineinandergreifend in den
Trainingsprozess mit einfließen. Wer dies beachtet, wird unweigerlich
feststellen, dass der beste Führungsstil für einen Trainer beim Coaching –
also dabei, der Persönlichkeit seines Schülers möglichst reichhaltige
Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen und ihm den Weg dahin zu
ebnen, dass er möglichst viele Rollen im sozialen Leben übernehmen
kann – sicherlich der kooperative und freundschaftliche Führungsstil ist.
(siehe hierzu Kapitel IX - Die Kenntnisse, Fertigkeiten, Persönlichkeit
und Arbeit eines Trainers).
Während wir nun den sozialen Aspekten des Fechtens in vollem
Umfang Genüge getan und seine segensreichen Eigenschaften betont
haben, sollten wir auch die positiven Wirkungen des Fechtens selbst nicht
außer Acht lassen. Das herrliche Glühen des Erfolges beim Erreichen
eines Ziels, das Gefühl der körperlichen Fitness, die Langlebigkeit und
die starken Muskeln sind nicht nur für die Produktionsarbeit und ihre
sozialen Begleiterscheinungen inklusive ihrer Folgewirkungen wichtig,
sie stellen auch in sich einen hohen Wert für die Entwicklung und die
Glückseligkeit des einzelnen Menschen dar.
Was der polnische Schriftsteller Andrzej Tyska in seinem höchst
interessanten Essay über die humanistischen Werte des Sportes
geschrieben hat, find ich sehr richtig. Er sagte: „Jeder Mensch hat ein
individuelles Recht auf Gesundheit, und zwar nicht nur im Sinne einer
ununterbrochen Leistungsfähigkeit für eine produktive Tätigkeit – er hat
einen Anspruch auf ein erfülltes und langes Leben im Vollbegriff seiner
Kräfte als solche und nicht etwa nur, um zu vermeiden, dass er als Frührentner
das soziale Budget belastet. Der Wert eines erfolgreichen Lebens
ist hiervon unabhängig und er kann – unter anderem – im Sport, bei der
körperliche Erholung und Ertüchtigung sowie in dem Vergnügen
gefunden werden, sportliche Wettkämpfe und Spiele zu verfolgen oder
selber daran teilzunehmen. Unter den humanistischen Werten des Lebens,
ist der Sport zwar nicht der einzige, aber auch nicht der geringste der
unabhängigen Werte“.
Gute Lektionen und Gefechte sind erfreuliche Erfahrungen, die es uns
ermöglichen, die Müdigkeit abzuschütteln, und die uns ein Gefühl des
Wohlbefindens, des Optimismus und der Energie vermitteln – wohl weil
uns das Fechten geistig wie körperlich so viel Kraft und Konzentration
abverlangt, dass es alle Sorgen und Alltagsbeschwerden verdrängt.
Vor einigen Jahren hat Dr. Roger Tredgold, ein Fachmann auf den
Gebieten des Säbelfechtens und der Psychiatrie, die positiven Seiten des
Säbelfechtens sachlich wie folgt zusammengefasst:
„Heutzutage ist das Leben voller Frustrationen und viele berufliche
Tätigkeiten führen zu emotionalen Spannungen, die besser durch
Bewegung kompensiert als aufgestaut werden sollten. Zweifelsohne
geben viele Menschen den Widerwillen, den sie gegen Vorgesetzte
oder manchmal sogar gegen ihre Ehepartner verspüren, auf dem
Fußball- oder Kricketfeld zum Ausdruck. Doch bietet der Kricket-,
Fuß- oder Tennisball in dieser Hinsicht weit weniger Befriedigung als
der Körper eines Gegners auf der Planche und er ist, meiner Erfahrung
nach, auch wesentlich leichter zu schlagen. Zudem kann natürlich
auch kein Zweifel darüber bestehen, dass es eindeutig segensreicher
ist, einen Säbelhieb auszuteilen (oder wenn es denn so sei, einen
solchen zu erhalten) als einen Streich mit dem Florett. Das ist auch der
Grund, weshalb sich die meisten Säbelfechter – selbst jene, die auf der
Planche äußerst ungestüm vorgehen – abseits der Bahn als so überaus
gutgelaunte und ausgeglichene Menschen erweisen.“
Wer diese Argumentation einen Schritt weiter führt, erkennt, dass das
Fechten - mehr noch als andere Wettkampfsportarten - versteckte, kaum
realisierte und unbewusste Wünsche wie das Bedürfnis nach Dominanz,
die Hoffnung auf Anerkennung und Bestätigung, das Bedürfnis nach
Leistung und Erfolg, den Wunsch, Niederlagen, Frustrationen und
Enttäuschungen zu vermeiden, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer
sozialen Gruppe, nach freundschaftlicher Empathie und den Wunsch nach
Sicherheit, Abenteuer und Aggression befriedigt.
Lassen Sie uns also kurz darüber nachdenken, was Jung und Alt am
Fechten so anziehend finden.
Die Motivation, dem Fechtsport nachzugehen, ist normalerweise
vielfältig. Sie variiert von Mensch zu Mensch – je nach Altersgruppe,
Geschlecht und entsprechend der persönlichen Neigungen der jeweiligen
Sportler. Außerdem durchläuft sie mit wachsendem Geschick und in der
fortschreitenden Entwicklung der Laufbahn eines Fechters verschiedene
Veränderungen. Junge Menschen, besonders Kinder, finden ihren Weg
zur Fechtwaffe vorrangig unter dem starken Einfluss emotionaler
Eindrücke, die sich aus einem Gemisch von Romantik, Heldentum und
fechterischen Fähigkeiten ergeben, wie sie von den Helden in unseren
Romanen, Filmen und auf der Bühne gerne dargestellt werden. Bei
Teenagern und jungen Erwachsenen treten dann eher der Wunsch nach
und die Freude an der dynamischen Körperbewegung, an Kampf und
Wettbewerb sowie das unbewusste Ventil für den Herdeninstinkt in den
Vordergrund. Wenn sie über das Fechten sprechen, unterstreichen fast
alle erwachsenen Fechter das Vergnügen, das ihnen die strategischen
Aspekte eines Gefechtes bereiten, wie beispielsweise bei dem Versuch,
die Bewegungen des Gegners vorherzusehen, ihn zu einer bestimmten
Aktion zu verleiten, ihm einen überraschenden Treffer zu versetzten und
dergleichen mehr.
Manche Menschen sind auch von der Persönlichkeit großer Fechter
stark beeindruckt, von ihren Erfolgen und Reisen. Sie lesen mit Interesse
die Interviews mit berühmten Fechtern und begeistern sich für deren
Wettkampergebnisse. Sie fragen nach allen Einzelheiten und nach den
Eindrücken der Fechter bei ihren Aufenthalten in fernen Ländern (so
haben zum Beispiel die beiden großen polnischen Säbelfechter Wojciech
Zabłocki und Jerzy Pawłowski verschiedene Memoiren veröffentlicht, in
denen sie – lebendig und farbenfroh – ihre Abenteuer auf der Planche,
ihre Stadtrundfahrten und ihre Zusammentreffen mit interessanten
Menschen usw. schildern). Die britische Olympiasiegerin Gillian Sheen
schreibt in ihrem Buch, dass sie dank ihres Floretts viele fremde Länder
und Städte besucht und viele interessante Menschen getroffen hat, die sie
nie kennengelernt hätte, wenn sie keine so hervorragende Florettfechterin
gewesen wäre.
Weitere bedeutende Motive für die Pflege der Fechtkunst bieten die
darin enthaltenen Möglichkeiten, sich über den Durchschnitt zu erheben,
die eigene Persönlichkeit zu entwickeln, die positiven Seiten und den
Wert der eigenen Person zu betonen und durch das Fechten Anerkennung
und Bestätigung zu finden. In den sozialistischen Ländern, in denen die
Regierung, die politischen Führungsriegen, die Gewerkschaften, die
Presse und die Gesellschaft insgesamt immer eine erstaunlich große
Unterstützung für den Sport bereithielten und wo die Behörden wie auch
die Öffentlichkeit immer sehr viel Interesses an den Resultaten der
Bemühungen der Athleten zeigten, haben solche Motive immer eine
besonders wichtige Rolle gespielt.
Ein führender Athlet wird jedoch - unabhängig vom jeweiligen
politischen System, von der jeweiligen Regierung oder Religion - in
praktisch jedem Land eine hohe soziale Stellung erlangen, berühmt
werden und viele Ehrentitel und staatliche Auszeichnungen erhalten.
Durch das stetig wachsende Ansehen der Olympischen Spiele und
Weltmeisterschaften und durch die zunehmende Bedeutung des Sports
für die moderne Gesellschaft, ist das zuletzt genannte Motiv in jüngster
Zeit immer wichtiger geworden. Angesichts des dem Menschen
angeborenen Bedürfnisses nach Wertschätzung und Anerkennung ist
dieses Motiv für das Bemühen um ein gutes Abschneiden im Sport
gerade für solche Menschen ganz besonders wichtig, die mit einem
ausgeprägten Ehrgeiz gesegnet – oder vielleicht auch belastet – sind.
Ein weiteres indirektes Motiv für das Fechten, ist der Wunsch, die
eigene Kondition zu bewahren, sich bei guter Gesundheit und fit zu
halten. Interessanterweise lässt sich feststellen, dass letzter Zeit in den
Vereinigten Staaten viele detaillierte und interessante Studien zu dem
Thema durchgeführt wurden, für welche neuen Formen von Übungen
sich die lokalen Fitness-Clubs jeweils entschieden. Und seltsamerweise
(obwohl für mich keineswegs überraschend) stellte sich heraus, dass die
vielseitigsten Übungen zum Aufbau körperlicher Fitness all jene waren,
die ursprünglich aus dem Fechtsport und hierbei insbesondere aus der
Beinarbeit stammten.
Allgemein gesprochen, liegen die Motive jedoch viel offenbarer und
direkter auf der Hand - beim Fechten geht es um das reine Vergnügen an
der dynamischen Bewegung, am Ruhm und am Kampf und um ähnliche
Motive.
Manche Menschen sind von der Anmut und Ritterlichkeit des
Fechtens beeindruckt. Ein gewisses Maß an Snobismus mag hierbei
zuweilen eine Rolle spielen – die Überreste jener Zeiten, in denen die
Fechtkunst als ein Attribut der privilegierten Klassen galt. Wieder andere
fühlen sich durch die schnelle und komplizierte Partie angezogen, die
gleichermaßen eine Gegenüberstellung von Ideen, Techniken, Strategien,
schnellen Reaktionen und Absichten darstellt.
Dr. Wiktoria Nawrocka, eine bekannte polnische Sportpsychologin
hat vor einigen Jahren umfangreiche Tests mit führenden polnischen
Athleten verschiedener sportlicher Disziplinen durchgeführt. Sie fand die
folgenden Beweggründe für das Betreiben einer hochgradig wettkampforientierten
Sportart:
1. der Wunsch nach Erfolgen, die den eigenen Wert bestätigen, die
persönlichen Ambitionen erfüllen und die soziale Anerkennung
sicherstellen (51 % der getesteten Athleten);
2. das Bedürfnis nach körperlicher Aktivität und den damit verbundenen
angenehmen Empfindungen (25 %);
3. das Bedürfnis nach Rivalität und danach, sich im Wettbewerb zu
messen; (18, 7 %);
4. die Faszination des besonderen Charakters einer bestimmten Sportart
und die Bewältigung von Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben,
dass man diesen Sport betreibt (16,4 %);
5. weitere Motive wie etwa gesundheitliche Gründe, ästhetische
Vorstellungen und Erfahrungen, und vieles andere mehr.
Ihren Untersuchungen und Überlegungen nach scheint es so zu sein,
dass wie sie es ausdrückt „beim Betreiben einer Wettkampfsportart, eine
Motivation mit soziologischem Hintergrund die Hauptrolle spielt, worauf
übrigens auch die unwillkürliche und gewaltige Entwicklung des Sports
in der heutigen zivilisierten Gesellschaft zurückzuführen ist.“
Bei Kindern sind die wichtigsten Motivationsfaktoren zum Betreiben
einer Wettkampfsportart:
· die reine Freude an motorischen Aktivitäten,
· der Überschuss an ausbrechenden Energien,
· ein hohes Aktivationsniveau
· und das Gefühl, dass sich die eigenen Fähigkeiten verbessern.
Ein guter Trainer sollte sich dessen bewusst sein und dies bei der Art
und Weise, wie er sein Training mit Kindern organisiert und durchführt,
zu nutzen wissen.
Im Umgang mit Kindern sollte sich der Fechtmeister außerdem die
Faszination der Kinder für Schwerter und Waffen und für den Zauber der
historischen Vergangenheit des Fechtens auf clevere Weise zunutze
machen.
Bei älteren Kindern – und bei Erwachsenen – liegt die wichtigste
Aufgabe eines guten Fechttrainers darin, die gesamte, reichhaltige Skala
der verschiedenen sozial positiv besetzten Motive für das Betreiben des
Fechtsports zu betonen und zu unterstützen, während er gleichzeitig den
negativen Motivationsmomenten entgegenwirkt.
Gegenüber Erwachsenen sollten die wertvollen Elemente des Fechtens
als Sportart herausgestellt werden, als da wären:
1. das Gefecht als ein schnelles und vielseitiges Wechselspiel der Fertigkeiten
und Begabungen, der Leistungsfähigkeit, der Konfliktmomente,
der motorischen Reflexe und der Geschicklichkeit sowie der diversen
Dimensionen der Persönlichkeit und des Temperaments des Fechters,
bei denen der Intellekt, die Konzentration und die Motivation eine
entscheidende Rolle spielen;
2. der gesundheitliche und erzieherische Wert des Fechtens und seine
Bedeutung für die Anpassung an Leben und Arbeit in der modernen
Gesellschaft;
3. die angenehme und attraktive Möglichkeit zur Entwicklung
der eigenen Persönlichkeit.
Ein Kapitel über die Merkmale des Fechtens wäre unvollständig ohne
die Ergänzung einer Beobachtung, die insbesondere jene erfreuen wird,
die gedanklich eher der ästhetischen oder schauspielerischen Linie
folgen. Das Fechten mit seinen reichhaltigen und vielfältigen Techniken
und seinen beständig neuen und überraschenden taktischen Konzepten –
wie es von erstklassigen Kämpfern gehandhabt wird, die unter voller
Konzentration und mit dem Ehrgeiz und der Motivation, zu gewinnen,
zum Kampf antreten - entwickelt sich mit fortschreitender Entwicklung
und Erfahrung zu einer Art Kunst, ohne dabei jedoch den Charakter einer
Sportart zu verlieren. Es kann dem Zuschauer eine emotionale Erfahrung
bieten, die so dramatisch und atemberaubend ist, wie ein Schauspiel auf
der Bühne oder ein Ballettabend. Ein Gefecht oder ein voranschreitendes
Turnier, mit seiner Mischung aus Siegen und Niederlagen, entfaltet
immer wieder spannende und aufregende Momente, die dem Zuschauer
die Gefühle und Emotionen offenbaren, die die Fechter selber in diesen
Momenten verspüren – ihre Triumphe und ihre Enttäuschungen, ihre
Ambitionen, ihren Mut, ihre Unentschlossenheit oder auch ihre taktische
Klugheit. Im Gefecht lassen sich nicht nur die körperlichen sondern auch
die intellektuellen und emotionalen Eigenheiten eines Fechters erkennen:
seine Motivation, seine Erregung und Anspannung, seine Persönlichkeit
und sein Temperament. Die anmutige Figur eines Fechters, der mit
Leichtigkeit und Schwung die kompliziertesten Klingenbewegungen
ausführt, ist ein Anblick von hohem ästhetischem Reiz.
Zusammenfassend, lässt sich sagen, dass der Satz, den George Silver
in seinem Buch Paradoxien der Verteidigung (Paradoxes of Defence) vor
über fünfhundert Jahren niederschrieb (siehe der vorangehende Epigraph
dieses Kapitels), auch heute noch sehr wahr und aktuell ist. Ein guter,
moderner Trainer wird in der Lage sein, diesem sogar noch etwas
hinzuzufügen und einige weitere Vorzüge des Fechtens in die Praxis
umzusetzen.

 

 

 

 

   

 

************************************************************************************************* "FECHTEN VERSTEHEN": hochaktuell und umfassend - ein Kompendium für jeden Trainer, Fechter und Betreuer!

Nach oben